Was ist erwachsen sein?

Der Schritt von der Raupe zum Schmetterling

Erwachsen zu sein bedeutet, Verantwortung für das eigene Handeln und dessen Konsequenzen zu übernehmen. Dafür braucht es Voraussicht. Sie ist auch der Schlüssel, wahre Spontanität leben und vor allem genießen zu können und so Gestalter*in der eigenen Wirklichkeit zu werden.

Der Begriff erwachsen sein verdeutlicht bereits die Prozesshaftigkeit, welche diesem Phänomen innewohnt. Ich er-wachse aus etwas. Es setzt voraus, dass ich mit dem Prozess des erwachsen-werdens etwas Vorheriges ablege. Ähnlich wie die Raupe, die zum Schmetterling wird. Sie ist zwar aus einer Raupe dazu geworden, aber sie ist danach definitiv keine mehr. Sie hat eine andere Gestalt und dennoch ist die Raupe ihr Kern.

Es findet also eine tiefgreifende Wandlung in uns statt. Aber wie sieht die genau aus? Ich erwachse dem kindlichen Dasein und werde (im besten Fall) ein souveränes und autonomes Individuum. Ich werde unabhängiger. Ich bestimme ab jetzt, was ich mache und mit wem. Ich lege ab jetzt die Spielregeln meines Lebens fest.

Aktion statt bloße REaktion

So viele Rechte und Freiheiten wie wir sie als Erwachsene erhalten, so viele Pflichten gehen damit auch einher. Doch möchte ich hier jetzt nicht auf gesetzliche Regeln oder ähnliches hinaus. Die für mich wichtigste zwischenmenschliche Pflicht ist die der Verantwortung. Denn mit der Freiheit, ab jetzt so zu handeln, wie ich es will, geht auch die Verantwortung einher, die Konsequenzen meiner Handlungen abzusehen und zu tragen. Es braucht dafür eine gewisse Voraussicht.

Kinder leben meistens im Hier und Jetzt. Sie denken nicht viel über Zukünftiges oder Vergangenes nach. Sie REagieren in dem Moment des Geschehens spontan auf die Dinge, die auf sie einwirken. Das mag an vielen Stellen spaßig, aufgeweckt, neugierig, vielleicht sogar schlagfertig wirken – spontan eben. Nur hat Spontanität einen begrenzten Rahmen an Handlungsmöglichkeiten. Nicht dass die Handlungsoptionen statistisch wirklich weniger sind. Allerdings bringt uns die spontane Handlung dazu, auf die darauf folgenden Reaktionen von außen wieder spontan reagieren zu müssen. Wir REagieren eben nur, statt zu agieren. Dies kann sich am Anfang noch leicht anfühlen, doch irgendwann saugt uns dieser Mechanismus in eine Reaktions-Spirale, welche sich eher bedrohlich anfühlt.

Voraussicht als Schlüssel für selbstbestimmtes Handeln

Wenn wir stattdessen anfangen unseren Handlungen eine gewisse Voraussicht voranzustellen, haben wir die Möglichkeit, der aktive Part einer Situation zu sein. Wir fangen an zu agieren und können so aus dem Teufelskreis des ewigen REagierens aussteigen.

Das erweitert unseren Handlungsrahmen enorm. Spontanität ist super schön und bringt viel Leichtigkeit mit sich. Allerdings können wir als Erwachsene lernen, zu unterscheiden, wann eine Situation Weitsicht und Vorausschau braucht und wann eine spontane Reaktion passend ist. Nur wenn wir beides in uns kultiviert haben, haben wir auch eine echte Wahl und Handlungsoption. Daher ist es so wichtig, sich der Verantwortung des eigenen Handelns bewusst zu werden und sie in sich zu integrieren.

Doch was heißt Verantwortung denn jetzt genau?

Es steckt bereits im Kern des Wortes selbst: Verantwortung ist meine „Antwort“ auf die Welt. Verantwortung bedeutet, sich bewusst zu entscheiden und damit zu positionieren, was die eigene Antwort auf die auf mich einwirkenden Gegebenheiten ist. Eine solche Antwort kann eine tatsächliche Antwort sein, beispielsweise auf eine gestellte Frage. Sie kann sich aber auch genauso gut in Form einer

  • inneren Haltung,
  • Entscheidung,
  • ausgesprochenen Grenze,
  • Bitte,
  • Ethischen Wert
  • oder ähnlichem zeigen.

Im Gegensatz zur Spontanität reagiere ich also nicht aus dem Bauch oder Herzen heraus, sondern positioniere mich selbstbestimmt und handle von dort aus gezielt und klar. Ich bin mir der Kon-sequenzen meiner Handlungen bewusst und bereit, sie in ihrer Gänze zu tragen – auch wenn mir diese vielleicht nicht immer bewusst ist.

Raus aus der Opferrolle!

Aber wozu ist das gut, wenn ich stattdessen ganz spontan reagieren kann? Ist doch viel leichter, als sich über alles Gedanken zu machen! Das mag im ersten Moment vielleicht sogar stimmen, allerdings erweist sich dieser Gedanke langfristig als Trugschluss. Denn wenn ich nur spontan reagiere, gestalte ich nur sehr wenig bis gar nicht den Raum mit. Anstatt vorzugeben, was passieren soll und in die eigene Gestaltungskraft zu kommen, gebe ich vieles nur ans Außen ab, damit der Verantwortungs-Ball möglichst schnell wieder bei anderen liegt. Geschieht dies in Situationen, welche nicht von Leichtigkeit oder Spaß geprägt sind, führt dies dazu, dass andere entscheiden was passiert. Ich bin also abhängig von den Handlungen anderer und begebe mich damit selbst in eine Opferposition. Ich bin passiv und erfahre, wie mir Dinge geschehen, anstatt dass ich aktiv mitwirke und gestalte. Das meinte ich vorhin mit dem, dass es sich „eher bedrohlich anfühlt“.

Durch Verantwortung in die volle Präsenz und Größe finden

Und genau dieser Umstand macht es für mich zu so attraktiv, in meine Verantwortungsrolle zu kommen, auch wenn mir dies manchmal schwerfällt und an der ein oder anderen Stelle eventuell auch zunächst überfordert. Aber ich lerne zu gestalten. Ich erfahre, was es heißt, sich einen Raum und ein Umfeld zu kreieren, der bzw. das wirklich zu mir passt. In welchem ich mich nicht irgendwie reinquetsche und anpasse, sondern wo ich in meiner vollen Präsenz und Größe sein kann. Ich erfahre meine eigene Selbstwirksamkeit. Ich bekomme Platz um mich herum, den ich (mit)gestalten kann. Ich werde vom Opfer zum*zur Gestalter*in meiner eigenen Wirklichkeit.

Ab jetzt habe ich die Wahl

Aus dieser selbst-ermächtigten Position heraus spontan zu sein, kann mit echter Leichtigkeit und Offenheit für das Unbekannte geschehen. Denn dann bin ich mir der möglichen Konsequenzen und des weiteren Geschehens bewusst und kann mir schonmal Notfallpläne überlegen, falls etwas nicht so klappt, wie ich es mir gewünscht habe. Dann wird die Spontanität zur Freiheit, denn ich habe die Wahl und kann beliebig zwischen Spontanität und Voraussicht wechseln. Für eine echte Wahl braucht es mindestens zwei Optionen, welche ich im Zusammenspiel zwischen Spontanität und Voraussicht finden kann.

Voraussicht als Schutzmantel

Für mich fühlt sich Voraussicht im Wechselspiel zur Spontanität wie ein Schutzschild an. Zum einen schließt die Voraussicht (Handlungs-)Lücken, welche sich in der reinen Spontanität immer wieder auftun und erweitert so mein Handlungsspektrum. Zudem bildet sie eine Art Schutzmauer um meine kindliche Spontanität. Anstatt das alles aus meiner Umgebung auf mich einwirkt und mein Handeln mitbestimmt und beeinflusst, entscheide ich nun allein, ob, wann, wie und warum ich reagieren will. Aus dem Einwirken von außen (schwarze Pfeile) wird ein Agieren ins Außen (rote Pfeile).

Raupe oder Schmetterling?

Kommen wir zurück zum Schmetterling und der Raupe und dem Prozess des Erwachsen-werdens. Ich erwachse also aus dem (nur) Spontanen (Raupe) in die verantwortungsvolle Voraussicht (Schmetterling). Und genauso wie der Schmetterling noch immer in der Lage ist wie eine Raupe auf einem Blatt zu sitzen, können wir nun wirklich frei und selbstbestimmt entscheiden, wann wir spontan sein wollen und wann es besser ist, vorauszuschauen bzw. als Schmetterling zu fliegen.

Falls du auch Lust hast, in deinem Leben diese Wahl zu haben, dann überlege dir doch mal, an welcher Stelle in deinem Leben du zuletzt die Verantwortung an andere abgegeben hast. Verurteile dich nicht dafür. Nimm es erstmal nur wahr und erkenne an, dass es passiert ist. Denn du kannst dich hier und jetzt – ganz selbstermächtigt und gestalterisch – dafür entscheiden, dies beim nächsten Mal anders zu machen.

Beim nächsten Mal will ich es so machen

Du kannst dir schon jetzt überlegen, was du in einer ähnlichen Situation brauchst und welche Strategien dir einfallen, um das zu erreichen. Die Strategien können hier vielseitig sein. Hier mal ein paar meiner Ideen:

Du könntest das nächste Mal…

  • … eine Bitte formulieren
  • … eine Grenze setzen
  • … um Unterstützung bitten
  • … mehr Informationen einholen
  • … dich bezüglich deiner Entscheidung beraten lassen
  • … selbst kreativ werden z.B. wohin es in den Urlaub geht, was gekocht wird etc.
  • … eigene Ideen einbringen
  • … deine Stimme erheben
  • … Nein sagen
  • … Ja sagen
  • … dein Bedauern ausdrücken
  • … nachfragen
  • … deine Meinung vertreten
  • … und und und.

Erschaffe dir deinen individuellen Raum – jeden Tag

Ich hoffe diese kleine Liste gibt dir eine kleine Anregung, was mit verantwortungsvollem Handeln alles gemeint sein kann. Sie ist selbstverständlich nicht vollständig. Also sei kreativ und ergänze sie noch um ein, zwei Punkte! Oder mach dir besser eine ganz eigene. Denn was für mich funktioniert, muss für dich noch lange nicht gelten. Denn es ist Dein Leben und Deine Liste. Erschaffe sie dir!

Wie ich anfangs sagte, ist all dies ein Prozess. Prozesse sind anstrengend, manchmal unübersichtlich oder mit Stolpersteinen gespickt. Macht nichts! Schaue einfach immer wieder neu. Es ist okay, Fehler zu machen und mal nicht weiter zu wissen. Solange du es immer wieder neu probierst, kannst du letztendlich nur besser werden. Laufen haben wir ja auch nicht an einem Tag gelernt! Sei gutmütig mit dir und gib dir die Zeit, die es braucht. Du hast jeden Tag die Chance, es neu zu probieren. Also raus mit dir und gestalte dir das Leben, was dir wirklich entspricht!

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